
Was bedeutet Hilfebedürftigkeit in der Pflegeversicherung?
Hilfebedürftig ist nicht automatisch jeder ältere oder kranke Mensch. Es geht darum, dauerhaft (mindestens 6 Monate) und in wesentlichen Bereichen des Alltags auf Unterstützung angewiesen zu sein.
Grundlage: Die „6 Lebensbereiche“ (Module)
Die Pflegekasse prüft die Hilfebedürftigkeit anhand von 6 Bereichen, die alle im MDK-Gutachten (Medizinischer Dienst) vorkommen. Sie nennt man auch Module.
Schnellnavigation zu den einzelnen Modulen:
Was zählt zur Hilfebedürftigkeit?
1. Mobilität
- Gehen innerhalb der Wohnung
- z. B. nicht mehr selbstständig vom Bett zum Bad gehen können
- Bedarf an Gehhilfen (Rollator, Krücken, etc.) oder Begleitperson
- Treppensteigen
- Unfähigkeit oder Unsicherheit beim Bewältigen von Treppen
- Gefahr durch Stürze
- Verlassen der Wohnung
- Nur mit Unterstützung möglich (z. B. Rollstuhl, Begleitung)
- Häufig relevant bei Arztbesuchen, Einkäufen oder Spaziergängen
- Fortbewegung im näheren Umfeld
- Kann die Person zum Supermarkt, zur Apotheke oder zum Briefkasten gehen?
- Ist die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel noch möglich?
- Benutzung von Rollstuhl oder anderen Hilfsmitteln
- Kann der Rollstuhl selbstständig bedient werden?
- Wird eine zweite Person zum Schieben benötigt?
- Orientierung
- Ist die Person desorientiert oder verwirrt bei Ortswechseln?
- Gefahr des Verirrens (besonders bei Demenz)
2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten
- Erkennen von Personen aus dem Umfeld
- z. B. Angehörige oder Pflegepersonen werden nicht erkannt
- Örtliche und zeitliche Orientierung
- z. B. Verwechslung von Tag und Nacht, sich verlaufen
- nicht wissen, wo man ist oder welcher Wochentag ist
- Verstehen von Sachverhalten und Informationen
- Schwierigkeiten, Anweisungen zu verstehen oder umzusetzen
- Missverständnisse, besonders bei komplexeren Themen
- Erkennen von Risiken und Gefahren
- z. B. Herd anlassen, bei Rot über die Straße gehen
- unzureichendes Urteilsvermögen
- Treffen von Entscheidungen im Alltag
- z. B. Unfähigkeit zu entscheiden, was angezogen oder gegessen wird
- Kommunikation: Sich mitteilen können
- Sprachstörungen, Wortfindungsstörungen, nicht mehr in vollständigen Sätzen sprechen
- Probleme beim Lesen, Schreiben oder Verstehen von Sprache
- Verstehen von Mitteilungen anderer
- z. B. kann Gesprächen nicht folgen oder versteht Fragen nicht richtig
- Auffälliges Verhalten im Alltag
- z. B. Aggressionen, Ängstlichkeit, Unruhe, sozial unangemessenes Verhalten
Wann ist man „hilfebedürftig“?
Hilfebedürftig ist man, wenn diese Fähigkeiten dauerhaft beeinträchtigt sind und man im Alltag regelmäßig Hilfe oder Beaufsichtigung braucht – sei es durch eine andere Person, oder durch spezielle Maßnahmen. !!! Besonders wichtig z.B. bei Demenz oder Alzheimer !!!
3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen
- Nächtliche Unruhe
- Häufiges Aufstehen in der Nacht
- Umherwandern, sich oder andere gefährden
- Schlafstörungen mit Auswirkungen auf den Tag
- Selbstschädigendes und autoaggressives Verhalten
- z. B. sich selbst schlagen, ritzen, absichtlich verletzen
- Gefahr für die eigene Gesundheit
- Fremdaggressives Verhalten
- Aggressionen gegenüber Mitmenschen (verbal oder körperlich)
- Bedarf an Aufsicht oder deeskalierender Begleitung
- Wahnvorstellungen, Ängste, Zwänge
- z. B. Angst, das Haus zu verlassen; Kontrollzwänge
- Realitätsverlust oder stark eingeschränkte Entscheidungsfähigkeit
- Depressive Verstimmungen
- Antriebslosigkeit, Rückzug, Suizidgedanken
- Schwierigkeiten, den Alltag ohne Hilfe zu bewältigen
- Manisches oder enthemmtes Verhalten
- Übertriebene Aktivität, Risikoverhalten, unangemessene Handlungen
- Reizbarkeit, Unruhe, übermäßiges Redebedürfnis
- Soziale Rückzugstendenzen
- z. B. meidet Kontakte, isoliert sich, wirkt apathisch oder resigniert
- Unangemessenes Verhalten im sozialen Kontext
- z. B. lautes Schreien in der Öffentlichkeit, Entblößung, unpassende Kommentare
Wann ist man „hilfebedürftig“?
Wenn die betroffene Person regelmäßig Unterstützung, Beaufsichtigung, Anleitung oder Motivierung benötigt – zum Beispiel:
- um sich angemessen zu verhalten
- um sich selbst und andere zu schützen
- um den Alltag zu strukturieren oder
- um emotionale Ausbrüche zu regulieren
Dann gilt sie in diesem Bereich als hilfebedürftig. Auch das ist eine Form von Hilfebedürftigkeit – nicht körperlich, aber betreuerisch.
4. Selbstversorgung
- Körperpflege
- Waschen (ganz oder teilweise)
- Duschen / Baden
- Zähne putzen, Mundpflege
- Kämmen, Rasieren
- Eincremen, Hautpflege
- Hilfe beim Toilettengang (auch Intimhygiene)
- An- und Auskleiden
- Kleidung auswählen
- Anziehen (Ober- und Unterbekleidung)
- Schuhe binden, Knöpfe schließen, Reißverschluss bedienen
- Nahrungszubereitung und -aufnahme
- Mahlzeiten zubereiten (kochen, aufwärmen, anrichten)
- Nahrung anreichen oder füttern
- Schneiden, Schälen, Essen mit Besteck
- Trinken
- Getränke einschenken, halten, trinken
- Flüssigkeitsaufnahme im Blick behalten
- Umgang mit Ausscheidungen
- Inkontinenzversorgung (Windeln, Katheter, Einlagen)
- Hilfe beim Toilettengang (z. B. Transfer, Abwischen)
- Wechsel von Kleidung oder Bettwäsche bei „Unfällen“
- Hilfe bei Menstruation und Intimhygiene
- Unterstützung bei Monatsblutung (bei z. B. kognitiven Einschränkungen)
Wann ist man hilfebedürftig in der Selbstversorgung?
Wenn diese Tätigkeiten nicht mehr eigenständig, regelmäßig und sicher ausgeführt werden können – sei es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Einschränkungen – und eine andere Person helfen, motivieren oder überwachen muss, gilt man in diesem Bereich als hilfebedürftig.
5. Bewältigung und Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen
- Medikamentengabe
- Medikamente richten oder einnehmen (z. B. vergessen, falsche Dosis)
- Injektionen (z. B. Insulin spritzen)
- Kontrolle von Einnahmezeiten, Wechselwirkungen, Nebenwirkungen
- Wundversorgung
- Verbandwechsel, Wundbeobachtung, hygienische Maßnahmen
- z. B. bei Dekubitus, OP-Wunden, chronischen Wunden
- Messungen
- Blutzuckermessung, Blutdruckkontrolle
- Messgeräte bedienen und Werte einordnen
- Therapieüberwachung und -begleitung
- z. B. bei Psychotherapie, Physiotherapie, Chemotherapie
- Termine organisieren, Therapiehinweise umsetzen, begleiten lassen
- Einhalten von Diät- oder Trinkvorgaben
- z. B. bei Herz-/Nierenerkrankungen, Diabetes
- Schwierigkeiten, spezielle Ernährung einzuhalten
- Hilfe bei der Nutzung von Hilfsmitteln
- z. B. richtiges Anlegen von Prothesen, Orthesen, Hörgeräten
- Umgang mit Rollstuhl, Inhalator, CPAP-Gerät, etc.
- Verhalten bei krankheitsbedingten Krisen
- z. B. bei epileptischen Anfällen, Unter-/Überzuckerung, Panikattacken
- die betroffene Person erkennt die Situation nicht oder handelt nicht angemessen
- Psychische Belastungen durch Krankheit
- z. B. depressive Reaktion auf schwere Erkrankung, Angst vor Behandlungen
- braucht Hilfe bei der Bewältigung
Wann ist man hilfebedürftig?
Wenn eine Person regelmäßig Anleitung, Beaufsichtigung oder praktische Hilfe braucht, um mit der Krankheit oder Therapie sicher und verantwortungsvoll umzugehen, liegt in diesem Bereich Hilfebedürftigkeit vor. Die Ausführung (z. B. Injektion) an sich zählt zur Behandlungspflege, die die Krankenkasse zahlt.
Beispiele aus der Praxis
- Eine Person mit Diabetes Typ 1, die Insulin nicht selbst spritzen kann oder Angst davor hat
- Jemand mit Demenz, der seine Medikamente nicht korrekt einnimmt
- Eine Person mit Herzinsuffizienz, die ihre Salz- und Flüssigkeitszufuhr nicht kontrollieren kann
- Menschen mit psychischen Erkrankungen, die Arzttermine nicht selbst wahrnehmen
6.Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte
- Tagesstrukturierung
- Die betroffene Person kann den Tag nicht mehr selbst planen oder gestalten
- z. B. bleibt stundenlang im Bett oder vergisst, sich zu waschen oder zu essen
- benötigt Unterstützung, um einen Rhythmus oder Abläufe einzuhalten
- Selbstständige Beschäftigung
- Schwierigkeiten, sich sinnvoll zu beschäftigen oder Interessen nachzugehen
- z. B. aufgrund von Depression, Demenz oder Antriebslosigkeit
- braucht Motivation oder Anleitung, um z. B. zu lesen, fernzusehen, spazieren zu gehen
- Anpassung an Veränderungen und Anforderungen
- z. B. Überforderung bei Terminänderungen, neuen Personen oder ungewohnten Situationen
- kann auf äußere Reize oder Veränderungen nicht mehr angemessen reagieren
- Kontaktpflege
- kann soziale Kontakte nicht mehr eigenständig aufbauen oder aufrechterhalten
- Rückzug, Isolation oder unangemessenes Sozialverhalten
- braucht Unterstützung, z. B. Begleitung zu Treffen, Gesprächen, Arztbesuchen
- Umgang mit anderen Menschen
- z. B. bei kognitiven oder psychischen Einschränkungen
- Schwierigkeiten, sich in Gruppen zurechtzufinden oder angemessen zu kommunizieren
Wann ist man hilfebedürftig?
Wenn eine Person regelmäßig Unterstützung benötigt, um ihren Alltag zu strukturieren, soziale Kontakte zu pflegen, mit Veränderungen umzugehen oder einfache Freizeitaktivitäten wahrzunehmen, dann liegt Hilfebedürftigkeit in diesem Modul vor.
Hier geht’s um Alltagsstruktur und Teilhabe – gerade bei kognitiven Einschränkungen wichtig.
Typische Beispiele
- Eine Person mit Demenz, die sich nicht mehr erinnern kann, wann sie essen soll oder Termine hat
- Jemand mit Depression, der tagelang nichts tut und jede Motivation verliert
- Eine Person mit Autismus, die sich im Kontakt mit anderen überfordert fühlt
- Ein Mensch mit einer geistigen Behinderung, der nicht ohne Unterstützung an Freizeitangeboten teilnehmen kann
Was zählt nicht zur Hilfebedürftigkeit?
Jetzt zu den Dingen, die nicht als pflegerische Hilfebedürftigkeit anerkannt werden – auch wenn sie belastend sind.
- Haushaltsführung allein
- z. B. Einkaufen, Putzen, Waschen, Kochen ohne Bezug zur Selbstversorgung
- Diese Tätigkeiten zählen nur eingeschränkt, wenn sie z. B. Teil der Nahrungsaufnahme oder des Trinkens sind
- Nur körperliche Beeinträchtigungen ohne Pflegebedarf
- z. B. ein amputierter Finger, Tinnitus, Bluthochdruck – sofern dadurch keine dauerhafte Hilfsbedürftigkeit bei den Modulen entsteht
- Alleinstehend oder sozial isoliert sein
- Einsamkeit ohne eine festgestellte Beeinträchtigung der Gestaltung des Alltags
- Keine Pflegeleistung nur, weil „niemand da ist, der hilft“
- Begleitung bei Freizeitaktivitäten
- z. B. Hilfe bei Kino-, Restaurant- oder Familienbesuchen
- zählt nur, wenn dadurch Alltagsstruktur oder soziale Teilhabe grundlegend nicht möglich wäre (Modul 6)
- Beaufsichtigung bei rechtlich selbstbestimmtem Verhalten
- z. B. Rauchen, riskantes Essen, sich unangemessen kleiden – solange keine Pflege- oder Gesundheitsgefahr besteht
- Wohnungsausstattung oder Wohnsituation
- Schlechte Lichtverhältnisse, keine barrierefreie Wohnung – das ist kein Pflegekriterium (aber evtl. relevant für Wohnumfeld verbessernde Maßnahmen)
- Reine Haushaltsnotlagen
- z. B. Unordnung, fehlende Vorräte, Poststapel – sofern kein klarer Zusammenhang zur kognitiven Einschränkung besteht
- Kurze oder vorübergehende Erkrankungen
- z. B. eine Erkältung, ein verstauchter Fuß, wenn sich daraus kein dauerhafter Pflegebedarf ergibt
Wie wird die Hilfebedürftigkeit geprüft?
Die Pflegekasse schickt den MDK (bei gesetzlichen Kassen) oder MEDICPROOF (bei privaten Kassen) zur Begutachtung. Dieser prüft:
- Was kann die Person noch selbst?
- Was nicht mehr oder nur teilweise?
- Daraus ergibt sich ein Punktesystem → Je mehr Einschränkungen, desto höher der Pflegegrad.
FAZIT – wann ist jemand pflegebedürftig?
Ein Mensch ist pflegebedürftig, wenn er oder sie:
- körperlich, geistig oder psychisch beeinträchtigt ist,
- dadurch im Alltag regelmäßig und dauerhaft (mind. 6 Monate) Hilfe braucht,
- und das in den oben genannten Lebensbereichen.